Genossenschaftsprojekte von Frauen und für Frauen
Idealistinnen, Kämpferinnen, Geerdete
Was ist besonders an Genossenschaften, die Frauen gründen? Und wie lebt es sich in Häusern, die für Frauen gebaut wurden? wohnenextra hat sich von Lugano bis Bern bei alten und neuen Projekten umgeschaut.
Text: Liza Papazoglou
Die Frau strahlt. Wacher Blick, Bobfrisur, enge rote Hosen und passender Lippenstift. Jugendlich wirkt sie, wie sie auf mich zusteuert, als ich den Gemeinschaftsraum betrete; bald gibt es hier wie jeden zweiten Mittwoch ein gemeinsames Mittagessen, an dem Bewohnende und meist auch einige Vorstandsfrauen teilnehmen. Maria heisse sie. Was ich von ihr wissen möchte. Wie es ihr hier gefällt? „Sehr gut!“, kommt die prompte Antwort. Froh sei sie, hier wohnen zu können. Selbständig, mit eigener Wohnung – und dennoch unter Leuten. Man kenne sich. Ihr habe das Konzept von Anfang an gefallen: dass es einen schönen Aufenthaltsraum gebe, gemeinsame Aktivitäten, und Frauen, die sich kümmern. Seit neun Monaten wohnt Maria in der Residenza Emmy mitten in Lugano, gleich hinter dem Kulturzentrum LAC. Solange sie noch gearbeitet und im Stadtzentrum eine Bar geführt hat, war das alleine Wohnen kein Problem. Erst mit der Pensionierung und der vielen Zeit, die sie auf einmal hatte, wurde der frischgebackenen Rentnerin bewusst, wie sehr ihr in ihrem Alltagsleben Kontakte zu anderen Menschen fehlen.
Sie griff deshalb zu, als in der Residenza Emmy eine Einzimmerwohnung frei wurde. 15 davon gibt es, plus 6 Zweizimmerwohnungen; sie alle sind Menschen im AHV-Alter mit bescheidenen finanziellen Mitteln vorbehalten. Zu den glücklichen Mieterinnen zählt sich auch Felicita, die spontan anbietet, mir eine solche Wohnung zu zeigen; fotografiert werden möchte sie aber nicht. Fünf Jahre wohnt die Tessinerin hier. Eingezogen sie nach dunklen Jahren, in denen sie einen geliebten Menschen bis in den Tod pflegte und einen Herzinfarkt erlitt. Aber man müsse vorwärtsschauen. Sie fühle sich wohl hier. Sie weist auf die grosszügigen Räume, die praktischen Einbauschränke, die beiden Balkone, ihre Katze Penny hinter dem Vorhang. Von ihrem früheren Leben zeugen alte Möbelstücke, viele Ölbilder an den Wänden und das perfekte Deutsch, das die zuvorkommende Frau neben drei weiteren Fremdsprachen spricht. In der Hotelbranche arbeitete sie, ist weitgereist, lacht gerne. Wenigstens früher.
Politisch und sozial motiviert
Was wie eine gewöhnliche Alterssiedlung daherkommt, ist in Tat und Wahrheit ein Pionierprojekt engagierter Frauen, die vor sechzig Jahren dafür eigens eine Genossenschaft gründen. Das kommt im damaligen Tessin einer kleinen Sensation gleich, gibt es im Südkanton doch weder Baugenossenschaften noch vergleichbare privat initiierte Siedlungen noch haben Frauen gesellschaftlich viel zu melden. Dennoch bestehen einige Frauenvereine, die allerdings unterschiedliche Ziele verfolgen, von karitativem Engagement bis zum Kampf für die Rechte von Frauen in Gesellschaft, Arbeitsleben und Politik. 1956 schliessen sie sich zu einem Dachverband zusammen, der 1958 teilnimmt an der SAFFA, der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit. Dort entsteht die Idee für ein Wohnprojekt für ältere Leute mit wenig Geld, die dennoch autonom leben möchten; entsprechende Angebote fehlen. Frauen trifft das zu dieser Zeit besonders – ihre Löhne sind tief, die Altersvorsorge ist meist bescheiden, denn die AHV gibt es erst seit wenigen Jahren und die Pensionskassenpflicht noch gar nicht.
Um ein solches Projekt zu realisieren, gründen 1959 Vertreterinnen des Frauenvereins für soziale Hilfe, der Liberalen Frauen, der Handelsangestellten, der Sozialistische Union und weiterer Vereine eine Genossenschaft. Zwei prägende Köpfe, Maria Luisa Albrizzi und Emma Degoli, die deren Geschicke über Jahrzehnte lenken werden, sind auch aktiv in der Frauenstimmrechtsbewegung. An beiden Fronten treffen sie auf viele Hindernisse. Über die Ziellinie kommen sie schliesslich als erstes mit dem kantonalen Stimmrecht, das die Frauen im Tessin 1969 erhalten. Als noch zäher als der politische Kampf erweist sich das Wohnprojekt, von der Suche nach einem Stück Land über die komplizierte Finanzierung bis zur Planung. Einen tiefen Seufzer entlockt der Genossenschaftspräsidentin Cristina Zanini Barzaghi aber die rechtliche Situation damals: „Die Präsidentin musste unverheiratet sein, denn nur so konnte sie autonom Verträge unterschreiben. Verheiratete Frauen bedurften dafür einer schriftlichen Einwilligung ihres Ehemanns.“
Krise und Neustart
Trotz grosser Hürden lassen sich die Initiantinnen nicht beirren. Nach vielen Aufs und Abs kann 1972 endlich das Wohnhaus an der Via Antonio Adamini 16 bezogen werden. Betreut wird es über lange Jahre von den Gründungsfrauen und insbesondere Emma Degoli, die mit enormem persönlichem und zeitlichem Einsatz alle anfallenden Aufgaben wahrnehmen: Administration, Freizeitangebot, Hauspräsenz, Begleitung der oft unterstützungsbedürftigen Bewohnenden – unentgeltlich, versteht sich. Wie wacklig dieses Modell ist, zeigt sich, als der langgediente Vorstand ab Ende der 1990er-Jahre ersetzt werden muss. Die ehrenamtliche Führung mit unklaren Verantwortlichkeiten, ein Krankheitsfall und Kompetenzüberschreitungen eines Mitglieds führen die Genossenschaft in der Folge an den Rand der Funktionsfähigkeit und Insolvenz.
2012 dann wird an einer turbulenten GV das Steuer herumgerissen und ein neuer Vorstand bestellt. Cristina Zanini Barzaghi erinnert sich: „Wir wollten die Residenza Emmy unbedingt retten, aus Respekt vor den Gründerinnen, und weil es das Angebot immer noch braucht –günstige Wohnungen sind mehr denn je Mangelware. So blieb uns nichts anderes übrig, als die Ärmel hochzukrempeln und aufzuräumen.“ Die neuen Vorstandsfrauen, die von Architektur über Recht bis zu Controlling diverse Kompetenzen abdecken, bringen das schlingerne Schiff wieder auf Kurs. Sie schaffen Transparenz, definieren klare Zuständigkeiten und stellen die Mietzinskalkulation auf eine nachhaltige Basis. Einige Renovationen werden vorgenommen, die Betreuung der Bewohnenden wird professionalisiert und der vernachlässigte Gemeinschaftsraum wiederbelebt. Mittlerweile finden wieder regelmässige Aktivitäten statt, etwa Yoga, kreative Nachmittage und eben die gemeinsamen Mittagessen, die etwa die Hälfte der Bewohnenden besuchen.
Überholtes Modell
Das Essen steht mittlerweile auf den Tischen, gekocht von Angela und Veronika, der guten Seele und einzigen Angestellten der Genossenschaft. Überall wird lebhaft geplaudert. Auch als längst abgeräumt ist, bleiben Bewohnerinnen sitzen und unterhalten sich weiter. Ein Mann holt seine Gitarre, zupft alte Lieder. Wohnten in den ersten Jahrzehnten überwiegend Frauen in der Residenza Emmy, beträgt heute der Männeranteil etwa einen Drittel. Die Stimmung ist entspannt, die Beziehung zwischen Bewohnenden und Vorstandsfrauen herzlich. Der Effort, den diese geleistet haben, hat sich offenbar gelohnt.
Der Präsidentin ist aber bewusst, dass ein ehrenamtliches Engagement in der Form, wie es ihre Vorgängerinnen praktizierten, keine Zukunftsmodell ist; als SP-Politikerin und Stadträtinvon Lugano hat sie selber einen übervollen Terminkalender, berufstätige Frauen stecken nicht mehr ihre ganze Energie in solche Projekte. Entsprechend werden die Strukturen der Genossenschaft künftig zu überdenken sein, zumal die Bewohnenden auch keine Mitglieder sind. Wie die Gründerinnen versteht sie ihr Engagement dennoch durchaus als feministisches – und als Herzensangelegenheit: „Frauen nehmen seit je soziale Verantwortung wahr. Dies werden sie auch künftig tun, einfach in anderer Form.“
Wohnprojekte für Frauen
Während bei der Residenza Emmy Frauen guten Wohnraum für andere schaffen wollten, gab und gibt es auch immer wieder den umgekehrten Fall: Wohnhäuser für Frauen. Auch wenn ihre Zahl überschaubar ist. Meist stehen hinter solchen Projekten Frauen mit einer Vision von gutem gemeinschaftlichem Wohnen. So etwa bei der Genossenschaft Cantaralda. Initiiert hat sie vor fünf Jahren eine Frau, die ihren Namen nicht genannt haben möchte. Sie hat im Raum Genf ein altes Haus geerbt, das sie weder Immobilienhaien verkaufen noch einfach vermieten mochte. Vielmehr schwebt ihr eine solidarische Frauengenossenschaft vor, die selbstverwaltet und gemeinschaftlich funktionieren soll. Da ein spezielles Finanzierungsmodell nötig war und das Haus in Etappen behutsam umgebaut wird, dauert es noch etwa zwei Jahre, bis neun bis zehn Personen in die sechs geplanten Wohnungen einziehen können. Interessentinnen hätten sich aber bereits einige gefunden, erzählt die Initiantin, die meisten davon um die Fünfzig, einige auch älter. Nun sucht sie noch Jüngere.
Eine Frauengemeinschaft – ist das noch zeitgemäss? „Mais bien sûr!“, findet die ehemalige Sängerin, die sich selber als Feministin bezeichnet. Es seien schliesslich Frauen, die die Welt zusammenhielten. Dennoch sind die Statuten offen formuliert, grundsätzlich können sich auch Männer am Projekt beteiligen. „Es wendet sich einfach in erster Linie an Frauen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Gruppen, sobald Männer dabei sind, diese entscheiden. Unser Planungsteam ist deshalb weiblich.“ Wie sich die Gemeinschaft entwickeln wird, wird sich noch zeigen müssen.
Hestia bewährt sich
Bald zwanzig Jahre Erfahrungen gesammelt mit einem ähnlichen Projekt hat bereits die Genossenschaft „Hestia – Wohnprojekt Fraueninitiative“. Gegründet wurde sie von alleinstehenden Frauen in Aarau, die keine Lust hatten, alleine für sich zu wohnen. Nach einigen Diskussionen einigten sie sich darauf, dass zwar mindestens die Hälfte der 2002 bezogenen Wohnungen an Frauen in der zweiten Lebenshälfte gehen, das Neunfamilienhaus im Übrigen aber auch anderen Lebensformen offen stehen soll. Von Beginn weg lebten so meist auch ein oder zwei Männer im Haus.
„Es funktioniert gut, alle fühlen sich wohl“, stellt Mitinitiantin Elisa Bolliger fest, die bis vor einem Jahr als Kopräsidentin der Genossenschaft amtete. Das monatliche Hausessen wurde über all die Jahre beibehalten, ebenso der gemeinsam organisierte Unterhalt von Haus und Garten. Vor allem schätzt sie, dass man alle Entscheide miteinander aushandelt, auch wenn das immer wieder zu Auseinandersetzungen führe. „Ich musste erst lernen, das nicht persönlich zu nehmen. Frauen können das nicht so gut“, stellt sie fest. Es sei zwar nicht immer einfach gewesen, sie habe aber enorm viel gelernt. Deshalb will sie auch anderen Mut machen. „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, weshalb nicht mehr Frauen solche Projekte realisieren!“ Dass der Bedarf an günstigem Wohnraum gerade für alleinstehende Frauen nach wie vor gross ist, steht für sie ausser Zweifel. Auch heute noch seien es die Frauen, die eher wenig Geld und schlechte Chancen auf dem Wohnungsmarkt hätten. Das bestätigen auch Studien.
Gründungswelle in den 1920er-Jahren
Das war bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts so. Für die wachsende Gruppe der arbeitenden Frauen fehlte es an passendem Wohnraum, ihnen blieb in der Regel nur, bei den Eltern zu wohnen oder als Untermieterin bei einer „Schlummermutter“ unterzukommen. In den 1920er-Jahren wurden deshalb in verschiedenen Schweizer Städten Baugenossenschaften für berufstätige Frauen gegründet. Zwei davon bestehen noch heute unter diesem Namen in Zürich und Bern (siehe Porträt Seite xx), ebenso das „Wohnhotel“ in Winterthur. Standen hinter der Zürcher Genossenschaft die Frauenzentrale und der Kaufmännische Verband, die Frauen endlich ein unabhängiges Leben ermöglichen wollten, versuchten in Bern und Winterthur findige Architekten, ein neues Marktsegment zu erschliessen. Wobei man an beiden Orten kein allzu glückliches Händchen mit dem Geld hatte: In Bern fehlten zahlungskräftige Frauen, um die Anteilscheine zu bezahlen, so dass nur drei von ursprünglich sechs geplanten Häusern gebaut wurden; in Winterthur belastete ein überzogenes Baubudget für das Gebäude mit 21 Wohnungen die Frauengenossenschaft über Jahrzehnte.
Doch das sind vergangene Zeiten, heute stehen die Genossenschaften auf soliden Füssen, auch wenn keine grosse Sprünge machen kann. Ebenfalls gemein ist ihnen, dass ihre Wohnungen nach wie vor nur von Frauen gemietet werden können – und sehr begehrt sind. Eva Zurkirchen, Präsidentin der Baugenossenschaft berufstätiger Frauen (BBF) Zürich: „Zwar sind die meisten unserer 96 Wohnungen klein, aber unsere Siedlungen an der Wasserwerkstrasse und beim Beckenhof sind günstig und sehr zentral gelegen.“ Die Bewohnerschaft sei bunt, von jungen Studentinnen und Frauen, die eine Zweitausbildung absolvierten, über Secondas in Tieflohnberufen oder Witwen bis zu Seniorinnen, die bereits lange hier lebten. „Für manche ist es gar nicht so wichtig, dass wir eine Frauengenossenschaft sind. Aber ich höre viele positive Feedbacks, die Atmosphäre in den Häusern ist gut, und viele geniessen es, immer jemandem für einen Austausch um sich zu haben.“
Wie eine grosse Familie
Das kann Tamara Bregenzer nur bestätigen. Die 28-Jährige lebt seit zwei Jahren in einer Einzimmerwohnung der BBF in der Nähe der Limmat. Über eine Bekannte aus einem Sommerjob erfuhr sie von der Frauengenossenschaft. „Ich fand die Idee schon ein bisschen speziell und habe mich gefragt, ob das wirklich funktioniert. Aus meinem Beruf habe ich Erfahrung mit Zickenkriegen,“ meint sie augenzwinkernd. Diese Wohnung sei aber für sie ein riesiger Glücksfall und ermögliche es ihr, ihren eigenen Weg zu gehen; wegen einer chronischen Krankheit kann sie schlecht in einer WG leben, und im Sommer beginnt die gelernte Dentalassistentin ein dreijähriges Vollzeitstudium als Fachfrau Gesundheitsförderung. Sie ist deshalb auf eine günstige Miete angewiesen.
Als sie einzog, habe es ein bisschen Gewöhnung gebraucht, für alle. Dass sie etwa ihren marokkanischen Freund heimbrachte, wurde mit Skepsis beobachtet. „Aber in der Waschküche lernt man irgendwann alle kennen. Ab dann lief es rund, und die alte Frau, mit der ich anfänglich den grössten Knatsch hatte, ist heute meine Lieblingsnachbarin.“ Je länger Tamara Bregenzer erzählt, umso wärmer werden ihre Worte. Die Frauen erlebten hier viel, was sie zusammenschweisse, und seien solidarisch. Wie etwa als vor kurzem ein Betrunkener sie auf ihrem Gartensitzplatz belästigte und am Handgelenk packte. Sie habe dies den Hausbewohnerinnen zur Information mitgeteilt. „Kurz darauf hat mir eine Nachbarin ein Schocklicht besorgt, eine andere hat mir eine Machete angeboten.“ Der Zusammenhalt sei gross, das gebe ein gutes Gefühl: „Ich weiss, dass ich jederzeit zu jeder Nachbarin gehen kann. Wenn etwas ist, würde jede helfen.“ Auch wenn es natürlich Toleranz und Rücksichtnahme brauche in dem ringhörigen Gebäude, wo späte Partys oder stürmische Liebhaber schon zu Irritationen geführt hätten. Tamara Bregenzer lacht: „Eigentlich sind wir wie eine grosse Familie – inklusive mühsamen Tanten“.
Ausschluss bei Heirat
Einen Wermutstropfen allerdings gibt es, einen grossen und bitteren: Sollte Tamara Bregenzer einmal heiraten oder ein Kind bekommen, muss sie ausziehen. Die Statuten sehen bei Eheschliessung oder Eintragen der Partnerschaft den Ausschluss vor, Kinder entsprechen ebenfalls nicht der Zweckbestimmung der BBF. „Das finde ich echt nicht mehr zeitgemäss“, meint die angehende Studentin. Vor allem für jüngere Frauen sind die Frauengenossenschaften deshalb oft nur ein kurzes Gastspiel. In allen dreien haben sich die Vorstandsfrauen schon Gedanken dazu gemacht, ob man nicht doch auch Männer aufnehmen sollte. Sie kamen bislang immer zum Schluss, dass ihre Mitglieder das gar nicht goutieren würden. Vielleicht ist irgendwann die Zeit für so einen Schritt reif. Aber dafür braucht es wohl erst einen Männerstreik.